NEUES FORUM
Friedliche Revolution 1989 in Suhl



Oktober 1989

Der Zeitpunkt eines Geschehens oder eines Geschehnisses bindet gleichermaßen den Rückblick, die Erinnerung, die Vorausschau, das Kommende und das neu zu Sehende ein.
In der Zeit der politischen Wende 89 saß ich plötzlich in der St. Marienkirche ( Hauptkirche) in Suhl, es war die 2. Veranstaltung der Mittwochsgebete im Oktober 89.
Wie und an was kann man sich erinnern in einer Zeit, in der die Menschen wie in einen Zeitraffer eingebunden waren, in dem vier oder fünf Jahre vergehen wie zehn Jahre einer Lebensgeschichte.
Allein der Wille zur Veränderung war es nicht, sondern der wie eine Welle über uns hinwegrauschende Umbruch einer Gesellschaftsordnung in eine neue, eine andere, eine von uns in der heutigen Form nicht gewollte Gesellschaft. Sie erhebt zwar den Anspruch eine Demokratie zu sein, entpuppt sich aber als eine Gesellschaft freier, ungezügelter Marktwirtschaft, in welcher "Gott Mammon" das Sagen hat.
An was erinnere ich mich und wie bin ich in diesen Umsturz hineingeraten, in die Bürgerbewegung überhaupt und in das Neue Forum?



Kunstausstellungen in Suhl

Ein Rückblick ist notwendig, um Zusammenhänge zu erkennen, aber auch, um Vorgänge erklärlich zu machen, die unausgesprochen zu Missverständnissen Anlass geben könnten.
Ich bin von Beruf Dirigent und Komponist, schied 1980 aus dem Staatsdienst aus, komponierte freischaffend sinfonische Werke bis zur - nein, eben nicht bis zur Wende.
Am 24.12.1988 (Weihnachtsabend) begann ich an einer neuen Sinfonie zu arbeiten (die 9., immer ein "Knackpunkt" für einen Komponisten). Warum und weshalb an diesem Abend, ist für die Darlegung hier nicht wichtig. Wichtig zu wissen ist, dass diese Sinfonie (ich arbeitete in den letzten Jahrzehnten musikalisch ausgesprochen dodekaphonisch) mit Buchstaben-Initialen ausgestattet war, und zwar: SED/SS/SA, das S als Synonym für den Ton „Es“.
Notenmotiv:



Mein politisches Credo! S E D - S S - S A



Mein Bestreben an dieser Sinfonie im Frühjahr 1989 weiter zu schreiben gelang mir nicht mehr. An mein Schreibpult zurückzukehren, dazu fand ich einfach keine „Muse“. Eine innere Unruhe verhinderte das Weiterarbeiten an dieser Komposition.
(Für den Leser: Komponieren ist eine nüchterne Schreibtischarbeit und erfordert ein hohes Maß an Konzentrationsvermögen)

Zu diesem Zeitpunkt sammelte sich in Suhl ein Kreis junger Menschen, die bildkünstlerisch arbeiteten und denen ich mich als Musiker verbunden fühlte, da ich mich nicht nur für Musik, sondern auch für Malerei und Literatur interessiere. Es wurde viel über Staat, Partei, Kunst, Gott und die Welt in dieser Zeit diskutiert. Aus diesem Kreis heraus initiierte sich, vor allem durch den leider tödlich verunglückten Roland Klemmer, der "Heinrichser Hofsommer" in Suhl. Diese „Kunstausstellung“ im Hof "Zur alten Post" in Suhl-Heinrichs, veranstalteten wir als Protest und Gegenpol zu den offiziellen Bezirkskunstausstellungen der SED.
Wir wussten nicht – ich am wenigstens - dass in Suhl vor 1989 bereits ein Kreis existierte, der im kirchlichen Bereich oppositionell tätig war, und dass in unserer unmittelbaren Umgebung bereits eine Initiative für Frieden und Menschenrechte bestand.
Für unsere junge Künstlerrunde entstand vormittags eine „obligatorische Dienstagsrunde" im Suhler Stadtkaffee, oder im Sommer auf der Freiterrasse des Hotel "Thüringen Tourist".
Um uns herum saßen die sog. "Teetrinker" („Teetrinker“ = Stasispitzel, von mir spöttischerweise so benannt), wir hielten sie als selbstverständliche Begleiter unserer Runde. Es lässt sich heute aus den Stasiunterlagen bestens herauslesen.



Die politische Wende 1989

Wie kam es zur friedlichen Revolution in Suhl und wie sehe ich es in meiner Erinnerung?
Zunächst fand im September 1989 eine der traditionellen Komponistentagungen in Weimar statt. Diese wurde vom Verband der "Komponisten und Musikwissenschaftler" meistens nach der Sommerpause einberufen. Bei dieser Sitzung kam es zum ersten Mal zu einem politischen Eklat. An diesem Tag verabschiedeten wir eine Resolution an die Berliner Zentrale des Vorstandes, mit Forderungen, die den "Zentralvorstand" aushebeln sollte. Ein von mir erarbeiteter Text, mit neuen Forderungen weitgehend ausgestattet, wurde ängstlich von den Anwesenden zusammengestrichen, genügte aber um den Vorstand abzulösen.
Dann kam der Oktober! Meine zwei in Suhl lebenden Söhne kamen in der ersten Oktoberdekade zu mir und sagten: "Vater, in der Kirche (Marienkirche Suhl) finden irgendwelche Diskussionen statt".
Ich sagte: "Wie Diskussionen? Wer und mit wem?" Keiner konnte es genau sagen. Darauf sagte ich: "Ganz einfach, wir gehen selbstverständlich zusammen am Mittwoch da hin."
Diesen Tag habe ich deswegen in besonderer Erinnerung - es war Mittwoch der 18. Oktober 1989 - weil ich für mich dachte, wenn du mit in die Kirche gehst, dann musst du auch etwas sagen und eventuell mitdiskutieren
Ich bereitete mir einen Text vor und wollte mich zum gegebenen Zeitpunkt zu Wort melden. Da ich keine Vorstellung vom Verlauf eines solchen abends hatte, wir aber
frühzeitig anwesend waren um einen guten Platz am Mittelgang der Kirche zu erwischen, schaute ich gespannt auf das Geschehen um mich herum und auf die Leute die nach und nach scharenweise eintrafen. Es saßen Leute um mich herum, die mich natürlich als ehemaligen Chefdirigenten der Suhler Philharmonie kannten, ich nicht, und ich wusste auch nicht wie das alles verläuft und was passieren würde. Nach einem kurzen Gebet und einer Einleitung der vor dem Altar sitzenden Veranstalter - zu diesem Zeitpunkt kannte ich keine der Personen die da mitwirkten - begann die Diskussion. In meiner Aufregung - solche hatte ich niemals am Dirigentenpult - fragte ich mich immer wieder: spreche ich oder nicht.
Und dann kam ein Punkt an dem ich mir Mut machte, aufstand, ans Mikrofon vorging, um zu sprechen. Ein Beifall brach aus, bei dem ich das Gefühl hatte, er war größer als in meinen Konzerten. Meine zwei ersten Sätze die ich sprach lauteten: „Ja, wir wollen einen demokratischen Sozialismus. Ja, wir wollen eine sozialistische Demokratie.“
Der weitere Text ist natürlich noch in meinen Unterlagen vorhanden. Viel wichtiger ist, dass ich das Gefühl einer befreienden Wirkung nicht nur bei mir, sondern auch bei den im Kirchenraum sitzenden Menschen empfand. Von diesem Zeitpunkt an war der Bann gebrochen und ein Aufbruchsgefühl entstand für alle, dass eine neue Zeit anbrach, die sich durch die Vorgänge in Polen und in der Sowjetunion noch verstärkten. Ich, und viele andere, verspürten deutlich, hier passiert etwas in einer Art und Weise, die sich keiner vorstellen, geschweige denn voraussehen konnte.
Dann verlief alles Schlag auf Schlag. Meine Jungens und andere befreundete junge Menschen waren bei allen nachfolgenden "Operationen" meine Begleiter, denn die Frage, ob die Stasi zugreift oder nicht blieb immer offen.



NEUES FORUM Suhl

Am darauf folgenden Mittwoch begann sich das erste Mal in Suhl in der Hauptkirche das NEUE FORUM vorzustellen. Es wurden Arbeitsgruppen zu allen Fragen einer neu aufzubauenden Demokratie gebildet. Meiner Erinnerung nach 14 bis 16 Gruppen.
Um mein Mitwirken, welches an diesem Abend begann, deutlich zu machen, muss ich folgendes hier einfügen: Ich war SED-Mitglied seit 1956. In den Jahren nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst, beorderte man mich in eine Wohngebietsorganisation. Die Diskussionen, die in diesem alten, um nicht zu sagen verknöcherten und verbohrten Genossenkreis stattfanden, sich anhören zu müssen, möchte ich niemanden zumuten, geschweige denn, sie sich diese jemals anhören zu müssen.
Eine der Folgen dieser unsäglichen Diskussionen - und andere Ursachen - brachte eine Auseinandersetzung mit mir und der SED-Bezirksleitung Suhl mit sich. Ich forderte Veränderungen die man nicht gewillt war einzugehen oder zu zugestehen.
So beschloss ich am 2.Oktober 1989 meinen Austritt aus der SED zu erklären, mit dem Zusatz, dass ich innerhalb einer Woche eine definitive Antwort erwarte, ansonsten mein Parteibuch am 10. Oktober auf dem Tisch läge, was dann auch geschah. Die Borniertheit und die Überheblichkeit der "Genossen" bleibt unübertroffen, aber auch ihr Hörigkeitsdenken, welches weder Kritik zuließ, noch dynamisch verlaufende Prozesse erkannte.



Zum bewussten Mittwoch im Oktober in der Kirche

An diesem Abend - nachdem das NEUE FORUM dazu aufgerufen hatte es möchten sich Bürger und Bürgerinnen an diesen Arbeitsgruppen beteiligen – ging ich am Schluss nach vorn. Brigitta Wurschi ansprechend - sie war eine der Initiatoren der Bürgerrechtsbewegung in Suhl - sagte ich: "Sie kennen alle meine Vergangenheit. Ich war SED-Mitglied, aber ich möchte gern mitarbeiten."
Darauf Brigitta Wurschi: "Das ist kein Problem. Bei uns kann jeder mitarbeiten. Wenn Sie wollen, dann suchen Sie sich eine Arbeitsgruppe aus".
Ich entschloss mich für die Arbeitsgruppe "Demokratie und Recht", die sich aus Platzgründen und aus Sicherheitsgründen in der Sakristei der Kreuzkirche traf. Pfarrer Schwennige stellte den Raum zur Verfügung. Zu diesem Zeitpunkt war die Kirche, wie überall, ein vorsorgender Partner.
Als ich eintraf waren ca.40 Personen anwesend. Als Wortführer übernahm damals Ortwin Migge die Leitung, ein späteres FORUM-Mitglied und zu den Wahlen 1990 Landeswahlleiter in Thüringen.
Wir übten uns zunächst in "Demokratie". Allen war das Herz voll. Alle wollten sprechen. Keiner kannte keinen, jeder hoffte jeden zu kennen.
Inwieweit der "Krake Stasi" involviert war, konnte keiner erkennen. Sei es wie es sei, wir begannen ein neues Wahlgesetz aufzubauen, später dann eine neue Verfassung. Alle erarbeiteten Texte wurden an eine Kommission der Volkskammer gesandt, die dazu aufgerufen hatte, aus den Bürgerbewegungen heraus Vorschläge einzubringen.
Die sich überstürzenden Ereignisse in Suhl, die vollkommen neue Situation des persönlichen Umgangs miteinander, der Wille zur politischen Betätigung etwas Neues zu schaffen, waren für mich ziemlich verwirrend. Hinzu kommt, dass ich mich in einem völlig neuem Metier befand, das ich erst kennen und beherrschen lernen musste.
Für mich stand eines fest - bei mehreren Demonstrationen brachte ich das offen zum Ausdruck - dass ich niemals mehr Diktaturen erleben und zulassen möchte die unser Leben einschränken, oder bei diesen aufbauend mitwirke. Diktaturen müssen endgültig der Vergangenheit angehören.
Wer die Nazizeit bewusst kennen lernte, die Bombenangriffe auf Dresden und die letzten Kriegsjahre erlebte und überlebte, weiß wovon er spricht. 1947 floh ich in den Westen (ich war von 1947 - 51 in Speyer tätig), kehrte 1951 in den Osten zurück. Als Kommunist wollte ich am Aufbau einer neuen Kultur, am Aufbau von Kulturinstitutionen mitwirken.
Im Interesse meiner Kinder und Enkel wollte ich nicht ein drittes Mal zulassen, sich in einer Diktatur wieder zu finden. Sie sollen keinen Zwangssituationen ausgesetzt sein, in der man seine Persönlichkeit und seine Zivilcourage verliert. Ich denke, dass ich sie immer besaß, sie aber noch leider zu wenig einsetzte.



Größte Demonstration am 4. November 1989 in Suhl

Am 04.11.1989 war dann der eigentliche Höhepunkt in Suhl. Vom NEUEN FORUM initiiert riefen wir, und ich sage bewusst „wir“, weil ich mich von der ersten Stunde an politisch heimisch fühlte, zu einer Demonstration am Kulturhaus-Vorplatz auf. (damals Thälmannplatz, heute Platz der Deutschen Einheit)
Zu allen "Demos" fragte man mich ob ich sprechen möchte, so auch an diesem denkwürdigen Tag. Ca. 30 000 – 35 000 Bürgerinnen und Bürger standen auf dem Platz zwischen Kulturhaus und Stadthalle.





Städtepartnerschaft Würzburg-Suhl profitiert von Gezeitenwende im deutsch-deutschen Verhältnis
Trotz Smog: Bürger atmen freier in Suhl
Quelle: Artikel Mainpost/Würzburg / Fotos: Reinhard Wenzel (gen.)



Ich denke und glaube, dass wir stolz darauf waren in der Ansprache alle als "Bürgerinnen und Bürger" von Suhl anzusprechen. Auch hier erinnere ich mich meiner Worte, ich sagte an diesem Nachmittag u.a.: "Ich bin Kommunist und ich bleibe Kommunist." Danach folgte meinerseits ein Angriff auf Markus Wolf (in der Aufregung sagte ich Konrad Wolf, was dann korrigiert wurde), weil ich ihn für den gefährlichsten Mann nach wie vor in unserer Gesellschaft halte. Danach auf die "Wölfe von der Burg". Hierzu muss man wissen, dass die Bezirksverwaltung des MfS in Suhl auf einem mittleren Berg, einer ehemaligen Fliegerschule aus der Nazizeit in Suhl liegt und ein ausgesprochen sicheres und abgeriegeltes Areal darstellt. Im Volksmund wurden sie als "die von der Burg" bezeichnet. Danach auf den Kombinatsleiter Wolf des WBK-Suhl, welcher als Intimus des SED-Chefs Albrecht galt und die Suhler Wohnungsbaukomplexe auf dem Gewissen hatte. Dann auf die "Herren" der SED-Bezirksleitung, speziell auf den Bezirkschef Albrecht. Das alles erregte die Gemüter der Bürger und rief sehr emotionale Diskussionen hervor.

In der Mainpost veröffentlichte der Journalist Dr. Roland Flade den oben gezeigten und nachstehenden Bericht:

       
Siegfried Geißler
Hans Albrecht
Ehrhard Kretschmann
Joachim Kunze




Organisation der Bürgerrechtbewegung

Das NEUE FORUM begann in der Novemberzeit Sprecherräte zu bilden, d.h., die Arbeitsgruppenleiter und die Sprecherräte wurden ordentlich gewählt.
Es kam dann soweit, dass ich derartig eingebunden war, zumal ich als Freischaffender über viel Freizeit verfügte, so dass man mich in den Sprecherrat wählte. Auf Grund der noch bestehenden Gefahr für alle erkannten wir, dass eine schnelle Vernetzung der Bürgerbewegung in Südthüringen sich als grundsätzlich notwendig erwies. Eine der wichtigsten Aufgaben die ich für mich in dieser Zeit empfand. Hier hatte vor allem Pfarrer Bernd Winkelmann, späterer Bundestagskandidat und Brigitta Wurschi einen großen Anteil.
Montagsdemos wurden organisiert, Lichter- und Menschenketten gebildet, um zur gewaltfreien Veränderung in der DDR aufzurufen.
Die wohl alles entscheidende Veranstaltung in der Stadthalle, in der über 3000 Bürger anwesend waren, fand am 4.Dezember 1989 statt. An diesem Abend wollten wir die nunmehr schon gereiften Vorstellungen der Arbeitsgruppen des NEUEN FORUM, sowie Personen die aktiv beteiligt waren, vorstellen. In der gesamten DDR rumorte es bereits und eine Dreiergruppe, angeführt von Brigitta Wurschi, war am späten Nachmittag vor der Stasi-Zentrale erschienen. Eingelassen wurden sie nicht. Gerüchte machten die Runde, dass die "Stasi" Akten vernichten und verbrennen würde. Kurz vor der Veranstaltung wurde ein zweiter Versuch unternommen mit den Verantwortlichen in der "Stasi" Kontakt aufzunehmen. Auch dieser misslang.
Kurz vor unserer Veranstaltung wurde der Sprecherrat zusammengerufen. Eine kurze Verständigung untereinander wie wir gegen die Stasi vorgehen sollten. Vorschlag: Wir werden dazu aufrufen, am 11. Dezember mit allen Bürgern auf die "Burg" zu gehen, um die "Stasi" zu entmachten. Aus heutiger Sicht: blauäugig, naiv und viel zu human.
Aber es kam anders.
Nebenbei bemerkt: alle Reden die zu den Demos in Suhl gehalten worden sind, hat die "Stasi" mit Namen, Adresse und Hausnummer festgehalten, wie wir später in den Unterlagen feststellen konnten. Ein ganz seltenes und wichtiges Dokument ist ein Tonband vom 4. Dezember 1989, auf dem u.a. ein IM Mitteilung per Telefon machte und von der Veranstaltung aus der Stadthalle direkt berichtete.
Wir wollten uns gerade alle vorstellen - ich saß links außen im "Präsidium" - und mit der Veranstaltung beginnen, als plötzlich irgendwer mitbekommen hatte, dass die kleine Delegation des NEUEN FORUM von der "Stasi" hingehalten worden sei. Da kam plötzlich der Ruf aus dem Publikum: "Warum sollen wir noch warten. Wir gehen sofort zur Stasi". Daraufhin war kein Halten mehr. Wir verteilten noch schnell Kerzen, damit alles friedlich und gewaltfrei verläuft. Diese zündeten alle Bürger an und der Marsch auf die "Burg" begann. Wir besprachen noch schnell, wie wir das in den Griff bekommen sollten. Vom Sprecherrat wurden einige beauftragt voranzugehen um Blutvergießen oder andere Exzesse zu verhindern.
Mein Auftrag war mit der Volkspolizei zu verhandeln, dass sie für einen verkehrssicheren Ablauf sorgen sollte.



Der Marsch auf die Suhler „Burg“

Da ich noch spät abends, also vor der Veranstaltung in der Stadthalle, im Fernsehen hörte, dass eine Kontaktaufnahme mit Berlin, entweder per Telefon oder über das Fernsehen möglich sei, bot ich mich an zu versuchen mit Berlin Kontakt aufzunehmen. Es erschien uns zunächst nicht wichtig, dass alle zu gleicher Zeit da "oben" sein müssten. Ich sprach mit einer Familie Teuerkauf sagte zu ihnen, sie sollten am Fernseher zu Hause bleiben und ich würde von einer Telefonzelle aus anrufen, wenn sie etwas Wichtiges hören sollten, oder es etwas mitzuteilen gäbe. Nunmehr am Schluss des ganzen Zuges, mit meiner Frau und mit der Kerze in der Hand, marschierten wir die ca. 1500m zur "Burg" hoch. An der Ecke der Ilmenauer Straße war ein Telefonhäuschen, welches zum Glück funktionierte. Die Familie Teuerkauf anrufend erfuhr ich nichts wesentlich Neues.
Ich versuchte zum Tor vorzudringen um mit unserem Sprecherrat Kontakt aufzunehmen. Da mich von den „Demos“ her alle kannten, ließ man mich bereitwillig durch. Am Tor angekommen fand ich bereits Brigitta Wurschi, Pfarrer Bernd Winkelmann, Superintendent Kretschmann und andere FORUM-Mitglieder an diesem stehen. Die Menge brodelte. Randalierer versuchten Unruhe zu stiften. Möglicherweise waren es Stasi-Leute oder IM`s. Dann begann der Ruf: "Stasi raus", "Stasi in die Produktion", "Wir sind das Volk", „Hängt sie auf“, usw. Alles bekannten Slogans der Wende. Brigitta Wurschi versuchte die Stasioffiziere die hinter dem Tor standen zu bewegen uns einzulassen. Keine Reaktion! Die Situation wurde immer brenzliger. Die Menschenmenge drängte zum Tor. Die Verhandlungen uns einzulassen dauerte bereits eine dreiviertel Stunde. Schließlich wollte Brigitta Wurschi ein Megaphon von der Stasi, um zu den Bürgern sprechen zu können, auch dies wurde verwehrt, obwohl es in unmittelbarer Reichweite stand. Ich wollte daraufhin gerade einen der Volkspolizisten bitten, die den ganzen Marsch begleitet hatten, mir ein Megaphon zu besorgen, als man seitens der Stasioffiziere einsah, dass es wohl nicht anders mehr gehen konnte und das Megaphon herausgaben. Auch hier wollte man, dass ich zu den Bürgern spreche, sie beruhige und ihnen sagen sollte, dass wir verhandeln, um in die "Burg" hineinzukommen. Ebenso sprach dann Pfarrer Bernd Winkelmann und Superintendent Kretschmann zu den immer mehr aufgebrachten Bürgern. Eineinhalb Stunden brauchte es, um den Stasioffizieren abzuringen, dass 16 Bürger die Stasiburg betreten durften. Unter den ersten waren meiner Erinnerung nach: Brigitta Wurschi, Bernd Winkelmann, Superintendent Kretschmann, Lutz Stiehler, Kristina und Harald Casper, René Hübner und mehrere mir nicht mehr namentlich geläufige Mitstreiter. Brigitta Wurschi rief mir noch schnell zu: „Herr Geißler, kommen sie mit.“ Worauf ich den bei mir stehenden Ortwin Migge aufforderte auch mitzukommen.
Im Hof wurden wir genasführt. Immer wieder fragte uns Generalmajor Lange, der oberste Leiter und Chef der Bezirksverwaltung, der sich in der Zwischenzeit am Tor eingefunden hatte, was wir eigentlich sehen wollten, wonach wir suchen, was wir vermuten und ähnliches.



Irreführung - genasführt werden - Ablenkungsmanöver

Hier muss ich wieder etwas einfügen, was zur Erläuterung für Außenstehende notwendig ist. Um die "Burg" rankte sich in der Bevölkerung eine Legende. Als der Neubau der Bezirksverwaltung des MfS auf dem felsigen Grund des benannten Berges, über der Hofleite, gebaut wurde, mussten Sprengarbeiten und Erdarbeiten in gewaltigem Umfang getätigt werden. In Suhl glaubte jeder, und dies hängt wieder mit einer gleich zu schildernden Legende der Nachkriegszeit zusammen, die Stasi hätte Stollen in die Erde getrieben, um durch unterirdische Ausgänge die "Burg" zu verlassen, oder auch um Menschen in diesen unterirdischen Räumen zu foltern. Das Letztere lies sich durch nichts, trotz Aufrufe des Bürgerkomitees und des Aktivs zur Auflösung des MfS/AfNS, von betroffenen Bürgern beweisen.
Der "Krake Stasi" hatte es nicht notwendig, sich selbst die Hände schmutzig zu machen.

Zurück zu den Stollen. Am Hang des Berges, also Richtung Rimbach, befand sich die Waffenfabrik der Familie Krieghoff. In diesem Werk arbeiteten in der Nazizeit Gefangene und Zwangsarbeiter. Sie schufteten bis zum Umfallen. Um die Fabrik krisensicher zu machen, trieb man Stollen in den Berg für den Fall einer Bombardierung und um die Produktion weiterlaufen zu lassen. Nach dem Krieg haben die "Russen", wie es so schön hieß, die Fabrik "geschleift", die Stollen zugesprengt. In der Zwischenzeit wuchs eine Bewaldung am Hang, so dass kaum mehr etwas von den ehemaligen Stollen zu sehen ist. Zumindest sind dies meine Kenntnisse dessen, was ich als Koordinator auf der Burg von den Bürgerinnen und Bürgern erfuhr und was wir durch eigene Feststellungen untersuchen und erkennen konnten.



Legende vom „Berg“

Alle wollten an dem Abend des 4.Dezember nach unten in die Räumlichkeiten. Auf dem Hof umherirrend versuchten wir, da uns seitens des GM Lange keine Unterstützung angeboten wurde, in diese vermeintlichen Hohlräume vorzudringen. Nachdem wir einige male an dem Haupttor des Neubaus vorbeigegangen waren, schoss es mir irgendwie blitzartig durch den Kopf: Das Gehirn einer Sache sitzt eigentlich immer oben! Also unter dem Dach. Dies sollte sich viel später als richtig herausstellen, nämlich als wir feststellen mussten, dass die Nachrichtenzentrale, die Brieföffnungsstelle, die „Sparkasse“, die Hauptabteilung, die Spionageabwehr, genau in den oberen Geschossen untergebracht waren. Wir waren in dem alten Teil der ehemaligen Fliegerschule „untergetaucht“, und das war ebenso gut.
Um einige Räume abzusichern und versiegeln zu lassen, holten in der Zwischenzeit Kristina Casper, Gründungsmitglied des NEUEN FORUM und Angelika Stolle, ebenfalls vom NEUEN FORUM, den Bezirksstaatsanwalt Schulze aus dem Bett. Sie hatten den Auftrag ihn zu holen. Erst nach dem zweiten Anlauf und inständiger Drohung betreffs der Verantwortlichkeit für ihn, kam der Staatsanwalt auf die "Burg". Wir hatten indessen einen Raum entdeckt, in dem alle Suhler personengebundenen Stasiunterlagen säuberlich geordnet in Regalen gelagert waren. Das konnte die "Stasi" besonders gut. Nach Auskunft des Archivars, Stasioffizier Georg Hoske, waren in diesem Raum ca. 13 000 Unterlagen archiviert. Unter Beteiligung des Bezirksstaatsanwaltes wurden Stichproben gemacht, um überhaupt einmal zu sehen was eine solche Akte enthält und wie sie aussieht.
Nach Aussagen der "Stasi" sind in Suhl ca. 1000 Akten in den letzten Wochen vor dem "Sturm" vernichtet worden. Inwieweit dies stimmt ist nicht mehr nachvollziehbar.
Die vor dem Tor standen und nicht wussten, was in der "Burg" vor sich geht, wurden immer unruhiger und ungeduldiger. Plötzlich kommt jemand und sagte: "Die wollen das Tor einrammeln. Einer hat mit einer Gaspatrone in die Menge geschossen". Auch hier forderte man mich auf hinauszugehen um zu den Bürgern zu sprechen, was ich dann auch tat. Bei dieser Gelegenheit, da ich im Gelände der „Stasi“ stand, stellte ich fest, dass eine bis an die Zähne bewaffnete Spezialtruppe das Tor von innen stützte und abschirmte. Wie sich später herausstellte, war es die Antiterrortruppe des MfS Suhl. Einige mir bekannte Gesichter standen überhaupt hinter dem Zaun auf dem Stasigelände. Offensichtlich wussten sie aus unseren Kreisen um die Vorhaben, zum anderen hatten sie auch Dienst an diesem Abend.
Es war ca. 3.30 Uhr als wir das Gelände verließen. Es würde zu weit führen, alle Begebenheiten dieser Nacht und des darauf folgenden Tages zu schildern. Die aufregenden Szenen und Vorkommnisse häuften sich und Details zu schildern würde zu weit führen. Hervorheben muss ich, nachdem wir uns früh zur ersten Besprechung trafen, dass plötzlich jemand kam und sagte: „Die Busfahrer von Suhl haben mit ihren Fahrzeugen die ‚Burg’ systematisch abgeriegelt“. Keiner konnte heraus oder hinein kommen. Eine mutige Tat.
Danke noch heute den Suhler Busfahrern.



Auswertung - neue Aufgaben und Nachrichten

Wir wollten an dem Vormittag, übernächtigt wie wir waren, eine Auswertung vornehmen und die weitere Vorgehensweise beraten. Nach dieser "Meldung" wurden Lutz Stiehler und ich beauftragt, zur "Burg" zu fahren und zu erkunden, was eigentlich los sei. Dort angekommen, fanden wir die Situation wie geschildert. Wir besprachen uns mit den uns am nächst stehenden Fahrern und sind danach, auf einen anderen Hinweis hin, nach Altendambach gefahren. In Altendambach, ein kleiner Nachbarort von Suhl, sollte eine Bunker-Zentrale des SED-Chefs Albrecht, sowie der Stasi sein. Zuvor wollten wir aber, entsprechend unseres Auftrages zur Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei. Diese sollte nach der "Erstürmung der Burg" die Absperrung und die Sicherheit übernehmen. Wir hatten und wollten sozusagen einen loyalen Sicherheitspakt mit der DVP schließen. In der Bezirksverwaltung der BDVP (Bezirksbehörde Deutsche Volkspolizei) angekommen - man hatte uns schon nachts nach der Stasistürmung erwartet - wollten wir zu dem Diensthabenden. Später erfuhren wir, dass der Leiter der BDVP Generalmajor Thieme geäußert haben soll: "Wenn das NEUE FORUM hier auftaucht, ballere ich los".
Bei der BDVP angekommen ließ ich den operativen Diensthabenden kommen, es war an diesem Tag Major Rust. Ich fragte ihn, ob er wüsste was geschehen sei und ob er Maßnahmen getroffen hätte wie vereinbart. Er verneinte und meinte, er wüsste nicht was am Abend vorher geschehen sei. Darauf schilderte ich ihm die Situation und sagte zu ihm: „Wenn sie nicht handeln, könnte ein Blutbad entstehen. Handeln sie sofort und schirmen sie das Gelände ab.“
Was wir an diesem Tag noch nicht wussten: Die BDVP war eine Diensteinheit der Stasi, mit der offiziellen Diensteinheitsnummer 11 90 00. Daraus kann man nur folgern, dass uns Major Rust, der OD an diesem Morgen, belogen hat. Es ist vollkommen unglaubhaft, dass er nicht gewusst haben will, was am 4.Dezember auf der "Burg" geschehen war.

(Diensteinheit 11 = Bezirk Suhl, ab 90 00, ca. 50 verschiedene Diensteinheiten,
z.B. Bezirksverwaltungsorgane, Kreisdienststellen, Post, bis hin zu Ferienheimen und anderen Objekten)

Lutz Stiehler und ich wollten noch unbedingt nach Altendambach, um möglicherweise in den Bunker einzudringen. Wir wussten allerdings nicht was in der Zwischenzeit auf der „Burg“ geschehen war und was da vor sich ging. In Suhl hatte sich herum gesprochen, die Busfahrer halten die Stasizentrale besetzt und die "Burg" sei für jedermann offen. Alles strömte nunmehr unkontrolliert auf den Berg und begann einiges zu zerstören in einem Umfang, der als unwesentlich bezeichnet werden muss. Durch den Staatsanwalt hatten wir einiges versiegeln lassen, so dass diese Räumlichkeiten nicht betreten werden konnten. Heute sage ich mir: vielleicht wäre es besser gewesen, jedem, der es gewollt hätte, seine Akte in die Hand zu drücken. Gut aber auch, dass es anders gekommen ist. Wer weiß, wie wir uns heute gegenüberstünden und wie wir uns begegnen würden.
Der Satz: "Keine Gewalt" ist und war auf alles und alle anwendbar.



Stasibunker in Altendambach

Mit Lutz Stiehler im Wald in Altendambach, gleich hinter der am Ortsausgang liegenden Fabrik angekommen, stand ein hoher Zaun über den zu klettern ich nicht mehr sportlich genug war. Lutz stieg hinüber. Ich sagte ihm noch, er solle mir möglichst alles zurufen was er sieht oder hört. Es herrschte eine Totenstille. Da ich Lutz Stiehler nicht mehr sehen konnte, da er ca. 150m in den Wald lief und in eine Wegkrümmung, ich aber hörte, wie er sich an etwas zu schaffen machte, rief ich: "Was ist los?" Er rief zurück: "Hier ist so etwas wie eine Garage oder ein Schuppen, ich komme aber nicht hinein". Er kam zurück. Unverrichteter Dinge zogen wir ab, nicht wissend, dass er gegenüber dem Eingang eines Führungsbunkers der SED-Bezirksleitung und der NVA gestanden hat. Übrigens ein wohl getarnter Eingang, wovon ich mich später selber überzeugen konnte. In diesem hätten wir bestimmt wichtige Dokumente gefunden. Als ich später zu einer Inspektion aller um Suhl herum liegenden Bunkeranlagen unterwegs war, in Begleitung von NVA-Offizier Major Thieme, war natürlich alles ausgeräumt, übergeben, oder vernichtet worden. Zeitgründe, Unwissenheit über vorhandene Unterlagen, Unkenntnis und vieles mehr, sind Gründe gewesen, dass wir das gesamte System nicht systematisch auseinander nehmen konnten. Die Zeit der Erkenntnisse über bestimmte Vorgänge und das Abrechnen mit den Verbrechen wird kommen. Vergessen und Verdrängen der jüngsten Vergangenheit ist im Moment leider das oberste Gebot der Ostdeutschen, allerdings auch der Westbürger. Eine klare, unvoreingenommene und aufzuarbeitende Historie wird dann nur noch wenige Überlebende erreichen.



Entwicklung der Bürgerbewegung

Zurück zur weiteren Entwicklung der Bürgerbewegung.
Nachdem wir das Bürgerkomitee gebildet hatten und uns mit der Stasiauflösung befassten, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm, mussten wir das NEUE FORUM politisch festigen und einigen. Dazu gehörte viel persönlicher Einsatz, es brachte aber auch sehr viel Verwirrung und unklare Meinungsbildungen mit sich.
Die Arbeitsgruppen arbeiteten weiter und brachten inhaltliche Dinge zustande, die insofern von Bedeutung sind, als sie Grundlagen bildeten für eine Demokratisierung der abgewirtschafteten und ausgelaugten DDR. Zwischen dem "Dienst" auf der Burg - ich war täglich von früh 7.00 Uhr bis abends 19.00 Uhr auf der "Burg" - manchmal wurde ich auch nachts geholt, wenn irgendwer Angst bekam oder andere Vorkommnisse eintraten, befasste ich mich mit dem Aufbau des Bürgerkomitees und der Vernetzung des NEUEN FORUM.
Nachts wachte Rene Hübner vom Bürgerkomitee über die „Burg“ mit vielen Suhler Bürgern, welche die "Burg" rund um die Uhr, ständig umringend bewachten.
Hier muss ein Dankeschön an die Hunderte von Helfern gesagt werden, die das Bürgerkomitee und das NEUE FORUM zu dieser Zeit unterstützten.
Von Weihnachten bis Silvester 1989 waren Tage, für die ich mich persönlich verantwortlich fühlte und mich vollständig auf der Burg aufhielt. Während der Feiertage wollte keiner persönlich zur Sicherung der „Burg“ etwas beitragen, oder anwesend sein. Feiertage sind sozusagen für alle "heilige Ruhetage". Ich war wütend, so dass ich einmal zornig zu allen sagte: "Ihr seid mir prächtige Revolutionäre. Ihr macht eine Revolution mit eingeplanten Feiertagen!"



Runder Tisch der Stadt Suhl

Dann begann die Zeit der Runden Tische. Brigitta Wurschi und Erich Hein waren für den Bezirkstag zuständig. Harald Casper, Gründungsmitglied des NEUEN FORUM Suhl und ich, für die Stadt. Der OB Kunze war am 30. November 1989 zurückgetreten, nicht aber der Stadtrat.
Dies war besonders hinderlich, da quasi zwei Gremien nebeneinander das „Sagen“ hatten. Alte SED-Kader und die eingefleischten Blockflöten der Stadt Suhl, wollten die Macht nicht aus den Händen geben. Übergangs-OB Hausdörfer übernahm kommissarisch die Geschäfte, bis dann Herr Kober als OB eingesetzt wurde. Er musste später wegen Stasiverstrickung und IM-Tätigkeit sein Amt aufgeben.
Der Runde Tisch, gleich ob im Bezirk oder in der Stadt, wäre eine große Chance gewesen, eine neue Demokratie aufzubauen. Dies ist uns, dem NEUEN FORUM und den Bürgerbewegungen, nicht gelungen. Ich musste viel lernen im Bezug auf demokratische Spielregeln. Nicht weil ich mich dagegen gesperrt hätte, oder sie nicht kannte - für mich ist kommunales Zusammenleben, Zusammenleben überhaupt, eine viel einfachere Sache als für viele andere Menschen - nein, es kamen nunmehr die, die ganz genau wussten wie Demokratie funktioniert. Solche die glaubten durch Verfahrensweisen und ausgesuchte Regeln alles zu blockieren. Diese Leute haben ganz einfach in ihrer Dummheit und mit ihrer Arroganz Zerwürfnisse hervorgerufen und den Bürgerbewegungen schlechthin, sowie dem Demokratieaufbau insgesamt, geschadet.
Betriebe kamen zu uns, speziell zu mir und wollten, dass wir ihnen helfen. Gesetzesunkenntnis, Rechtsunsicherheit, Mutlosigkeit, aber auch ein Nachhängen am Untergegangenen war die Folge der gesellschaftlichen- und wirtschaftlichen Wende. Misstrauen entstand, wer könnte wohl IM in meiner Umgebung sein. Dazu kamen unbotmäßige Forderungen, die Gier nach dem begehrten Westgeld und, und, und,...
Alles dies ließ unsere soziale Gesellschaft immer mehr zerfallen. Begünstigt natürlich durch den Hass, der entstanden war zwischen denen, die entmachtet worden sind und denen, die nach wie vor versuchten, in Positionen einzudringen, um neue Macht zu gewinnen.
Diese Vorgänge wären wert, sie extra zu beschreiben und zu analysieren.
Hierzu zählen u.a.
- Modrows Treuhand.
- Das unfähigste Regierungstrio der deutschen Geschichte:
   De` Maiziere, Diestel und Krause.
- Der Einigungsvertrag!
   Nach eingehendem Studium des Vertrages stellte ich fest, dass z.B.
   meine Berufsgruppe „Komponist“ vollkommen fehlt, u. a. Schwachstellen!)
- Kanzler Kohls in Dresden ausgerufenen „... blühende Landschaften“
- Westkonkurrenz, die ostdeutsche, gut laufende Unternehmen platt machten
- Banken, die mit hohen Kreditzinsen (8 – 20 %)
   private Initiativen in den Ruin trieben.
- "Joint Venture"-Unternehmen, die eher ausbeuterische, denn gewinnbringende
   Partnerschaften hervorbrachten
- Keine Vermögensbildende Maßnahmen für die ostdeutschen Bürger.



Erste frei gewählte Volkskammer und "Gauckausschuss"

In all diese Vorgänge und in dieses Gedankengut hinein wurde ich aufgefordert, in dem Volkskammerausschuss für die Auflösung des MfS/AfNS, dem sog. Gauckausschuss, als berufener Bürger mitzuarbeiten.
Was wir im Januar 1990 nicht wussten: In der Normannenstraße in Berlin, also in "Mielkes Imperium", arbeitete die Stasi weiter wie in alten Zeiten, trotz der Erstürmungen der meisten Bezirksstasizentralen der DDR am 4. Dezember 1989.
Wir wussten in Suhl nicht, dass die Berliner alles verschlafen und erst am 15. Januar 1990 in der Normannenstraße Mielkes Imperium gestürmt hatten.
Von Martin Montag, dem katholischen Pfarrer von Zella-Mehlis, kam ein Hilferuf aus Berlin an das Suhler Bürgerkomitee – er hatte die Besetzung am 15. Januar in Berlin in der Normannenstraße miterlebt – einige Bürger nach Berlin zu schicken, um die Berliner zu unterstützen.



Mielkes Imperium in der Normannenstraße in Berlin

Wir fuhren am 16. Januar 1990 früh um 3 Uhr als Bürgerkomitee in die Normannenstraße nach Berlin. Es waren dies: Dieter Möller, Renè Hübner, alles Mitglieder des Bürgerkomitees und des NEUEN FORUM und ich. Wir blieben bis zum 19. Januar in Berlin, mussten dann aber wieder nach Suhl, denn da brannte der Ofen ebenso lichterloh wie in Mielkes Imperium.
Um all dies präzis zu schildern, bedarf es eines besonderen Kapitels, denn was sich in dieser kurzen Zeit da abspielte, war derartig abstrus, monströs und pervers, dass es sich kaum noch beschreiben lässt.
Als Stichworte kann ich nur zitieren: das Versagen der Militärstaatsanwälte in Berlin. Die ausländischen Botschafter, vor allem der Alliierten, die Morgenluft witterten was die Stasi-Akten betraf. Für diese Leute gezielt die Hauptabteilung II des Markus Wolf und in diesem Zusammenhang genannt die „Rosenholz-Akten". Die Kaderschmiede des MfS in Gosen bei Berlin, die wir eigentlich noch aufsuchen wollten. Aus Zeitgründen, aber auch wegen der Übermüdung von uns, und möglichst schnell wieder nach Suhl zu kommen, schafften wir das nicht mehr. Allein an dem Zitierten kann man ermessen, was jeder auf sich nehmen musste und das alles einer genaueren Analyse und Untersuchung der Vorgänge bedarf.



Öffnung des Cottbusser Stasiarchivs in einem alten Fliegerhangar

Im Mai 1990 (?) rief uns Jürgen Haschke, der für Thüringen zuständige Volkskammerabgeordnete des Gauckausschusses an: Wir hätten doch Erfahrung mit der Stasiauflösung und möchten mit nach Cottbus kommen. In Cottbus hatten die Bürger, nach der Erstürmung der Stasizentrale alle Unterlagen in einen Hangar untergebracht und zugemauert.
Diesen in unserem Beisein zu öffnen war das Anliegen. Wir fuhren also zu dritt – Hübner, Möller und ich als eingespieltes Team - nach Cottbus, um mit dem dortigen Bürgerkomitee den Bunker zu öffnen. Dazu wurde schweres Arbeitsgerät benötigt, welches von den Cottbussern beschafft wurde. In das Mauerwerk war das Datum des Verschließens eingeritzt, ich kann mich aber nicht mehr an dasselbe erinnern. Es muss Februar 1990 gewesen sein.
Was uns entgegenstarrte war eine unübersichtliche Menge von Akten, Säcken mit hunderten von Papierschnitzeln, Mobiliar und vieles andere. In diesem Wirrwarr etwas zu finden oder interessantes zu entdecken war unmöglich. Nach getaner Arbeit fuhren wir, etwas enttäuscht ob des Aufwandes und des Misserfolges, wieder nach Thüringen zurück und widmeten uns der Aufgabe der Auflösung des MfS/AfNS in unserer Bezirksverwaltung.



Vernetzung NEUES FORUM Bezirk Suhl

Ab des 15. Februar 1990 hatte ich vom NEUEN FORUM als einer derjenigen im
Bezirksprecherrat der nunmehr verantwortlich war, den Auftrag das NEUE FORUM- Büro in der Theodor-Neubauer-Straße 9 in Suhl zu eröffnen, um die politische Arbeit aufzunehmen.
Es wurde notwendig, im ehemaligen Bezirk Suhl, das NEUE FORUM zu vernetzen. Adresslisten aufzubauen. Kontakte herzustellen. In unserem Bezirk hatten sich in Schleusingen (starke Gruppe), Neuhaus (starke Gruppe), Steinheid, Sonneberg, Hildburghausen, Römhild, Schmalkalden (starke Gruppe), Steinbach-Hallenberg, Bad Salzungen (starke Gruppe), Bad Liebenstein, Vacha, Empfertshausen (Einzelkämpfer), Geisa, Ilmenau (starke Gruppe), FORUM-Gruppen gebildet, die vernetzt werden mussten. Außerdem bestand seit dem 4. Dezember 1989 Kontakt zum NEUEN FORUM Erfurt und dem Erfurter Bürgerkomitee. Zusätzlich mussten die letzten Volkskammerwahlen, 18. März 1990, die erstmals auch frei und geheim durchgeführt wurden, vorbereitet werden.
All dies unbekannte und ungelernte Tätigkeiten.
Im Gauckausschuss wurde ich als freier Bürger Sonderbeauftragter des Bezirkes Suhl für die Enttarnung der OiBE (Offiziere im besonderen Einsatz), der HIM und der UM (Hauptamtliche inoffizielle Mitarbeiter, unbekannte Mitarbeiter) was mir nur teilweise gelang. Mit dem 3.Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, endet leider die Ausschussarbeit.
Die betroffenen Leute sind bekannt. Die Listen existieren in der Gauckbehörde. Gearbeitet wird mehr oder weniger an einer Enttarnung und an einer konsequenten Aufklärung. Zum Schutz der Behörde muss ich allerdings sagen, dass es einer hoch komplizierten, verantwortungsvollen und einfühlsamen Arbeit bedarf, um dies Unterlagen die Personengebunden sind, zu analysieren und aufzuarbeiten nicht unterschätzt werden darf.
Schließlich fanden mit der Gründung der neuen Bundesländer, die ersten freien und geheimen Wahlen nach der Wiedervereinigung 1990 in Deutschland statt. Wir hatten als NEUES FORUM einen politisch fundamentalen Fehler begangen, nämlich uns in der Zwischenzeit mit Leuten aller Couleur einzulassen, von denen wir annahmen sie seien unsere politischen Freunde und Mitstreiter. Nicht zuletzt hatte hierzu die Berliner Gruppe, voran Reinhard Schult, Ingrid Köppe, Bärbel Bohley und andere, die von sich aus behaupteten, sie wären die alleinigen Gründer des NEUEN FORUM, einen großen und gewichtigen Anteil. Sie erkannten nicht, dass eine Bürgerrechtsbewegung die nicht Partei werden will, keine Parteistrukturen wollte, kaputt gespielt wird, vor allem von denjenigen die zunächst „Hosianna“ schrieen und dann „Kreuzigt sie“ riefen.
Also mussten wir die bittere Erkenntnis hinnehmen, dass wir einem politisch hinterlistigen „Gaul“ aufgesessen sind.



Erste freie und geheime Wahlen in Thüringen 1990

Nichtsdestoweniger hatte man mich in Thüringen zum Spitzenkandidaten auf der Liste: NEUES FORUM /Grüne /Demokratie Jetzt/ gewählt. Wir hofften mit und durch den Wahlkampf den neuen Ministerpräsidenten von Thüringen zu stellen. Alles kam, wie wir heute wissen, anders. Das NEUE FORUM beging mit der Listenverbindung eine Mesalliance ein. Sie erbrachte politisch keinen Sinn, wurde nicht ernst und vertrauenswürdig genommen, vor allem weil sie sich politisch unreif darbot und zu Bruch ging.
Eines bleibt für mich persönlich:
Als ältester Abgeordneter war ich der 1. Alterspräsident im ersten Thüringer Landtag. Darauf bin ich stolz und es blieb mir vergönnt und vorbehalten, als Mitglied des NEUEN FORUM, der wichtigsten Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die konstituierende Sitzung am 25. Oktober 1990 im Deutschen Nationaltheater in Weimar durchzuführen.
Mit der Eröffnungsrede konnte ich aus der Sicht der Bürgerbewegung für eine neue, demokratische Zeit werben und sie in groben Umrissen andeuten.
Mein Demokratieverständnis steht dafür – und daran halte ich fest: Für mich müsste eine frei gewählte Bürgerdemokratie, oder Basisdemokratie entstehen, die frei ist von Fraktionszwang, von Parteigehorsam, die ein Koalieren von Parteien untereinander nicht notwendig hat und die tatsächlich das ist, was unser Leitspruch hergibt: Bürger für Bürger!



    



Diese andere, neue, oder eigentlich direkte Demokratie, wurde von mir in gesonderten Schriften festgehalten und erarbeitet.
In der Politik muss man lernen Geduld zu haben und sich darin zu üben. Dies lernte ich in den vier Jahren meiner Abgeordnetentätigkeit im Landtag kennen, und - man muss politische Mehrheiten hinter sich bringen um pragmatische Politik, aber auch um Visionen durchzusetzen. Die Zeit wird kommen und reifen in welcher die Bürgerbewegung des Herbstes 89 mit ihrem Gedankengut und ihrem Demokratieverständnis eine politisch übergreifende Größe darstellen wird. Dann sind realistische und wahrhaftige Veränderungen möglich. Nur dann können gesellschaftliche Erneuerungen stattfinden und herbeigeführt werden.
Eines sei hinzugefügt: In meiner Eröffnungsrede zitierte ich Thomas Mann, nachdem er 1951 das erste Mal wieder Deutschland besuchte und in der Paulskirche in Frankfurt/Main, im Deutschen Nationaltheater Weimar den Deutschen zurief: „Wir brauchen kein Deutsches Europa, wir brauchen ein Europäisches Deutschland.“
Dieser Satz ist heute gültiger denn je zuvor, leider auch unbeachteter!
Mein Schlusssatz der Rede lautete: „Demokratie leben heißt: Demokratie vorleben!“