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NEUES
FORUM
Friedliche
Revolution 1989 in Suhl
Oktober 1989
Der Zeitpunkt eines Geschehens oder eines Geschehnisses bindet gleichermaßen
den Rückblick, die Erinnerung, die Vorausschau, das Kommende und
das neu zu Sehende ein.
In der Zeit der politischen Wende 89 saß ich plötzlich in der
St. Marienkirche ( Hauptkirche) in Suhl, es war die 2. Veranstaltung der
Mittwochsgebete im Oktober 89.
Wie und an was kann man sich erinnern in einer Zeit, in der die Menschen
wie in einen Zeitraffer eingebunden waren, in dem vier oder fünf
Jahre vergehen wie zehn Jahre einer Lebensgeschichte.
Allein der Wille zur Veränderung war es nicht, sondern der wie eine
Welle über uns hinwegrauschende Umbruch einer Gesellschaftsordnung
in eine neue, eine andere, eine von uns in der heutigen Form nicht gewollte
Gesellschaft. Sie erhebt zwar den Anspruch eine Demokratie zu sein, entpuppt
sich aber als eine Gesellschaft freier, ungezügelter Marktwirtschaft,
in welcher "Gott Mammon" das Sagen hat.
An was erinnere ich mich und wie bin ich in diesen Umsturz hineingeraten,
in die Bürgerbewegung überhaupt und in das Neue Forum?
Kunstausstellungen in Suhl
Ein Rückblick ist notwendig, um Zusammenhänge zu erkennen, aber
auch, um Vorgänge erklärlich zu machen, die unausgesprochen
zu Missverständnissen Anlass geben könnten.
Ich bin von Beruf Dirigent und Komponist, schied 1980 aus dem Staatsdienst
aus, komponierte freischaffend sinfonische Werke bis zur - nein, eben
nicht bis zur Wende.
Am 24.12.1988 (Weihnachtsabend) begann ich an einer neuen Sinfonie zu
arbeiten (die 9., immer ein "Knackpunkt" für einen Komponisten).
Warum und weshalb an diesem Abend, ist für die Darlegung hier nicht
wichtig. Wichtig zu wissen ist, dass diese Sinfonie (ich arbeitete in
den letzten Jahrzehnten musikalisch ausgesprochen dodekaphonisch) mit
Buchstaben-Initialen ausgestattet war, und zwar: SED/SS/SA, das S als
Synonym für den Ton „Es“.
Notenmotiv:
Mein politisches Credo! S E D - S S - S A
Mein Bestreben an dieser Sinfonie im Frühjahr 1989 weiter zu schreiben
gelang mir nicht mehr. An mein Schreibpult zurückzukehren, dazu fand
ich einfach keine „Muse“. Eine innere Unruhe verhinderte das
Weiterarbeiten an dieser Komposition.
(Für den Leser: Komponieren ist eine nüchterne
Schreibtischarbeit und erfordert ein hohes Maß an Konzentrationsvermögen)
Zu diesem Zeitpunkt sammelte sich in Suhl ein Kreis junger Menschen, die
bildkünstlerisch arbeiteten und denen ich mich als Musiker verbunden
fühlte, da ich mich nicht nur für Musik, sondern auch für
Malerei und Literatur interessiere. Es wurde viel über Staat, Partei,
Kunst, Gott und die Welt in dieser Zeit diskutiert. Aus diesem Kreis heraus
initiierte sich, vor allem durch den leider tödlich verunglückten
Roland Klemmer, der "Heinrichser Hofsommer" in Suhl. Diese „Kunstausstellung“
im Hof "Zur alten Post" in Suhl-Heinrichs, veranstalteten wir
als Protest und Gegenpol zu den offiziellen Bezirkskunstausstellungen
der SED.
Wir wussten nicht – ich am wenigstens - dass in Suhl vor 1989 bereits
ein Kreis existierte, der im kirchlichen Bereich oppositionell tätig
war, und dass in unserer unmittelbaren Umgebung bereits eine Initiative
für Frieden und Menschenrechte bestand.
Für unsere junge Künstlerrunde entstand vormittags eine „obligatorische
Dienstagsrunde" im Suhler Stadtkaffee, oder im Sommer auf der Freiterrasse
des Hotel "Thüringen Tourist".
Um uns herum saßen die sog. "Teetrinker" („Teetrinker“
= Stasispitzel, von mir spöttischerweise so benannt), wir hielten
sie als selbstverständliche Begleiter unserer Runde. Es lässt
sich heute aus den Stasiunterlagen bestens herauslesen.
Die politische Wende 1989
Wie kam es zur friedlichen Revolution in Suhl und wie sehe ich es in meiner
Erinnerung?
Zunächst fand im September 1989 eine der traditionellen Komponistentagungen
in Weimar statt. Diese wurde vom Verband der "Komponisten und Musikwissenschaftler"
meistens nach der Sommerpause einberufen. Bei dieser Sitzung kam es zum
ersten Mal zu einem politischen Eklat. An diesem Tag verabschiedeten wir
eine Resolution an die Berliner Zentrale des Vorstandes, mit Forderungen,
die den "Zentralvorstand" aushebeln sollte. Ein von mir erarbeiteter
Text, mit neuen Forderungen weitgehend ausgestattet, wurde ängstlich
von den Anwesenden zusammengestrichen, genügte aber um den Vorstand
abzulösen.
Dann kam der Oktober! Meine zwei in Suhl lebenden Söhne kamen in
der ersten Oktoberdekade zu mir und sagten: "Vater, in der Kirche
(Marienkirche Suhl) finden irgendwelche Diskussionen statt".
Ich sagte: "Wie Diskussionen? Wer und mit wem?" Keiner konnte
es genau sagen. Darauf sagte ich: "Ganz einfach, wir gehen selbstverständlich
zusammen am Mittwoch da hin."
Diesen Tag habe ich deswegen in besonderer Erinnerung - es war Mittwoch
der 18. Oktober 1989 - weil ich für mich dachte, wenn du mit in die
Kirche gehst, dann musst du auch etwas sagen und eventuell mitdiskutieren
Ich bereitete mir einen Text vor und wollte mich zum gegebenen Zeitpunkt
zu Wort melden. Da ich keine Vorstellung vom Verlauf eines solchen abends
hatte, wir aber
frühzeitig anwesend waren um einen guten Platz am Mittelgang der
Kirche zu erwischen, schaute ich gespannt auf das Geschehen um mich herum
und auf die Leute die nach und nach scharenweise eintrafen. Es saßen
Leute um mich herum, die mich natürlich als ehemaligen Chefdirigenten
der Suhler Philharmonie kannten, ich nicht, und ich wusste auch nicht
wie das alles verläuft und was passieren würde. Nach einem kurzen
Gebet und einer Einleitung der vor dem Altar sitzenden Veranstalter -
zu diesem Zeitpunkt kannte ich keine der Personen die da mitwirkten -
begann die Diskussion. In meiner Aufregung - solche hatte ich niemals
am Dirigentenpult - fragte ich mich immer wieder: spreche ich oder nicht.
Und dann kam ein Punkt an dem ich mir Mut machte, aufstand, ans Mikrofon
vorging, um zu sprechen. Ein Beifall brach aus, bei dem ich das Gefühl
hatte, er war größer als in meinen Konzerten. Meine zwei ersten
Sätze die ich sprach lauteten: „Ja, wir wollen einen demokratischen
Sozialismus. Ja, wir wollen eine sozialistische Demokratie.“
Der weitere Text ist natürlich noch in meinen Unterlagen vorhanden.
Viel wichtiger ist, dass ich das Gefühl einer befreienden Wirkung
nicht nur bei mir, sondern auch bei den im Kirchenraum sitzenden Menschen
empfand. Von diesem Zeitpunkt an war der Bann gebrochen und ein Aufbruchsgefühl
entstand für alle, dass eine neue Zeit anbrach, die sich durch die
Vorgänge in Polen und in der Sowjetunion noch verstärkten. Ich,
und viele andere, verspürten deutlich, hier passiert etwas in einer
Art und Weise, die sich keiner vorstellen, geschweige denn voraussehen
konnte.
Dann verlief alles Schlag auf Schlag. Meine Jungens und andere befreundete
junge Menschen waren bei allen nachfolgenden "Operationen" meine
Begleiter, denn die Frage, ob die Stasi zugreift oder nicht blieb immer
offen.
NEUES FORUM Suhl
Am darauf folgenden Mittwoch begann sich das erste Mal in Suhl in der
Hauptkirche das NEUE FORUM vorzustellen. Es wurden Arbeitsgruppen zu allen
Fragen einer neu aufzubauenden Demokratie gebildet. Meiner Erinnerung
nach 14 bis 16 Gruppen.
Um mein Mitwirken, welches an diesem Abend begann, deutlich zu machen,
muss ich folgendes hier einfügen: Ich war SED-Mitglied seit 1956.
In den Jahren nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst, beorderte man
mich in eine Wohngebietsorganisation. Die Diskussionen, die in diesem
alten, um nicht zu sagen verknöcherten und verbohrten Genossenkreis
stattfanden, sich anhören zu müssen, möchte ich niemanden
zumuten, geschweige denn, sie sich diese jemals anhören zu müssen.
Eine der Folgen dieser unsäglichen Diskussionen - und andere Ursachen
- brachte eine Auseinandersetzung mit mir und der SED-Bezirksleitung Suhl
mit sich. Ich forderte Veränderungen die man nicht gewillt war einzugehen
oder zu zugestehen.
So beschloss ich am 2.Oktober 1989 meinen Austritt aus der SED zu erklären,
mit dem Zusatz, dass ich innerhalb einer Woche eine definitive Antwort
erwarte, ansonsten mein Parteibuch am 10. Oktober auf dem Tisch läge,
was dann auch geschah. Die Borniertheit und die Überheblichkeit der
"Genossen" bleibt unübertroffen, aber auch ihr Hörigkeitsdenken,
welches weder Kritik zuließ, noch dynamisch verlaufende Prozesse
erkannte.
Zum bewussten Mittwoch im Oktober in der Kirche
An diesem Abend - nachdem das NEUE FORUM dazu aufgerufen hatte es möchten
sich Bürger und Bürgerinnen an diesen Arbeitsgruppen beteiligen
– ging ich am Schluss nach vorn. Brigitta Wurschi ansprechend -
sie war eine der Initiatoren der Bürgerrechtsbewegung in Suhl - sagte
ich: "Sie kennen alle meine Vergangenheit. Ich war SED-Mitglied,
aber ich möchte gern mitarbeiten."
Darauf Brigitta Wurschi: "Das ist kein Problem. Bei uns kann jeder
mitarbeiten. Wenn Sie wollen, dann suchen Sie sich eine Arbeitsgruppe
aus".
Ich entschloss mich für die Arbeitsgruppe "Demokratie und Recht",
die sich aus Platzgründen und aus Sicherheitsgründen in der
Sakristei der Kreuzkirche traf. Pfarrer Schwennige stellte den Raum zur
Verfügung. Zu diesem Zeitpunkt war die Kirche, wie überall,
ein vorsorgender Partner.
Als ich eintraf waren ca.40 Personen anwesend. Als Wortführer übernahm
damals Ortwin Migge die Leitung, ein späteres FORUM-Mitglied und
zu den Wahlen 1990 Landeswahlleiter in Thüringen.
Wir übten uns zunächst in "Demokratie". Allen war
das Herz voll. Alle wollten sprechen. Keiner kannte keinen, jeder hoffte
jeden zu kennen.
Inwieweit der "Krake Stasi" involviert war, konnte keiner erkennen.
Sei es wie es sei, wir begannen ein neues Wahlgesetz aufzubauen, später
dann eine neue Verfassung. Alle erarbeiteten Texte wurden an eine Kommission
der Volkskammer gesandt, die dazu aufgerufen hatte, aus den Bürgerbewegungen
heraus Vorschläge einzubringen.
Die sich überstürzenden Ereignisse in Suhl, die vollkommen neue
Situation des persönlichen Umgangs miteinander, der Wille zur politischen
Betätigung etwas Neues zu schaffen, waren für mich ziemlich
verwirrend. Hinzu kommt, dass ich mich in einem völlig neuem Metier
befand, das ich erst kennen und beherrschen lernen musste.
Für mich stand eines fest - bei mehreren Demonstrationen brachte
ich das offen zum Ausdruck - dass ich niemals mehr Diktaturen erleben
und zulassen möchte die unser Leben einschränken, oder bei diesen
aufbauend mitwirke. Diktaturen müssen endgültig der Vergangenheit
angehören.
Wer die Nazizeit bewusst kennen lernte, die Bombenangriffe auf Dresden
und die letzten Kriegsjahre erlebte und überlebte, weiß wovon
er spricht. 1947 floh ich in den Westen (ich war von 1947 - 51 in Speyer
tätig), kehrte 1951 in den Osten zurück. Als Kommunist wollte
ich am Aufbau einer neuen Kultur, am Aufbau von Kulturinstitutionen mitwirken.
Im Interesse meiner Kinder und Enkel wollte ich nicht ein drittes Mal
zulassen, sich in einer Diktatur wieder zu finden. Sie sollen keinen Zwangssituationen
ausgesetzt sein, in der man seine Persönlichkeit und seine Zivilcourage
verliert. Ich denke, dass ich sie immer besaß, sie aber noch leider
zu wenig einsetzte.
Größte Demonstration am 4. November 1989 in Suhl
Am 04.11.1989 war dann der eigentliche Höhepunkt in Suhl. Vom NEUEN
FORUM initiiert riefen wir, und ich sage bewusst „wir“, weil
ich mich von der ersten Stunde an politisch heimisch fühlte, zu einer
Demonstration am Kulturhaus-Vorplatz auf. (damals Thälmannplatz,
heute Platz der Deutschen Einheit)
Zu allen "Demos" fragte man mich ob ich sprechen möchte,
so auch an diesem denkwürdigen Tag. Ca. 30 000 – 35 000 Bürgerinnen
und Bürger standen auf dem Platz zwischen Kulturhaus und Stadthalle.
Städtepartnerschaft Würzburg-Suhl profitiert
von Gezeitenwende im deutsch-deutschen Verhältnis
Trotz Smog: Bürger atmen freier in Suhl
Quelle: Artikel Mainpost/Würzburg / Fotos: Reinhard Wenzel (gen.)
Ich denke und glaube, dass wir stolz darauf waren in der Ansprache alle
als "Bürgerinnen und Bürger" von Suhl anzusprechen.
Auch hier erinnere ich mich meiner Worte, ich sagte an diesem Nachmittag
u.a.: "Ich bin Kommunist und ich bleibe Kommunist." Danach folgte
meinerseits ein Angriff auf Markus Wolf (in der Aufregung sagte ich Konrad
Wolf, was dann korrigiert wurde), weil ich ihn für den gefährlichsten
Mann nach wie vor in unserer Gesellschaft halte. Danach auf die "Wölfe
von der Burg". Hierzu muss man wissen, dass die Bezirksverwaltung
des MfS in Suhl auf einem mittleren Berg, einer ehemaligen Fliegerschule
aus der Nazizeit in Suhl liegt und ein ausgesprochen sicheres und abgeriegeltes
Areal darstellt. Im Volksmund wurden sie als "die von der Burg"
bezeichnet. Danach auf den Kombinatsleiter Wolf des WBK-Suhl, welcher
als Intimus des SED-Chefs Albrecht galt und die Suhler Wohnungsbaukomplexe
auf dem Gewissen hatte. Dann auf die "Herren" der SED-Bezirksleitung,
speziell auf den Bezirkschef Albrecht. Das alles erregte die Gemüter
der Bürger und rief sehr emotionale Diskussionen hervor.
In der Mainpost veröffentlichte der Journalist Dr. Roland Flade den
oben gezeigten und nachstehenden Bericht:
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Siegfried
Geißler
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Hans
Albrecht
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Ehrhard
Kretschmann
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Joachim
Kunze
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Organisation der Bürgerrechtbewegung
Das NEUE FORUM begann in der Novemberzeit Sprecherräte zu bilden,
d.h., die Arbeitsgruppenleiter und die Sprecherräte wurden ordentlich
gewählt.
Es kam dann soweit, dass ich derartig eingebunden war, zumal ich als Freischaffender
über viel Freizeit verfügte, so dass man mich in den Sprecherrat
wählte. Auf Grund der noch bestehenden Gefahr für alle erkannten
wir, dass eine schnelle Vernetzung der Bürgerbewegung in Südthüringen
sich als grundsätzlich notwendig erwies. Eine der wichtigsten Aufgaben
die ich für mich in dieser Zeit empfand. Hier hatte vor allem Pfarrer
Bernd Winkelmann, späterer Bundestagskandidat und Brigitta Wurschi
einen großen Anteil.
Montagsdemos wurden organisiert, Lichter- und Menschenketten gebildet,
um zur gewaltfreien Veränderung in der DDR aufzurufen.
Die wohl alles entscheidende Veranstaltung in der Stadthalle, in der über
3000 Bürger anwesend waren, fand am 4.Dezember 1989 statt. An diesem
Abend wollten wir die nunmehr schon gereiften Vorstellungen der Arbeitsgruppen
des NEUEN FORUM, sowie Personen die aktiv beteiligt waren, vorstellen.
In der gesamten DDR rumorte es bereits und eine Dreiergruppe, angeführt
von Brigitta Wurschi, war am späten Nachmittag vor der Stasi-Zentrale
erschienen. Eingelassen wurden sie nicht. Gerüchte machten die Runde,
dass die "Stasi" Akten vernichten und verbrennen würde.
Kurz vor der Veranstaltung wurde ein zweiter Versuch unternommen mit den
Verantwortlichen in der "Stasi" Kontakt aufzunehmen. Auch dieser
misslang.
Kurz vor unserer Veranstaltung wurde der Sprecherrat zusammengerufen.
Eine kurze Verständigung untereinander wie wir gegen die Stasi vorgehen
sollten. Vorschlag: Wir werden dazu aufrufen, am 11. Dezember mit allen
Bürgern auf die "Burg" zu gehen, um die "Stasi"
zu entmachten. Aus heutiger Sicht: blauäugig, naiv und viel zu human.
Aber es kam anders.
Nebenbei bemerkt: alle Reden die zu den Demos in Suhl gehalten worden
sind, hat die "Stasi" mit Namen, Adresse und Hausnummer festgehalten,
wie wir später in den Unterlagen feststellen konnten. Ein ganz seltenes
und wichtiges Dokument ist ein Tonband vom 4. Dezember 1989, auf dem u.a.
ein IM Mitteilung per Telefon machte und von der Veranstaltung aus der
Stadthalle direkt berichtete.
Wir wollten uns gerade alle vorstellen - ich saß links außen
im "Präsidium" - und mit der Veranstaltung beginnen, als
plötzlich irgendwer mitbekommen hatte, dass die kleine Delegation
des NEUEN FORUM von der "Stasi" hingehalten worden sei. Da kam
plötzlich der Ruf aus dem Publikum: "Warum sollen wir noch warten.
Wir gehen sofort zur Stasi". Daraufhin war kein Halten mehr. Wir
verteilten noch schnell Kerzen, damit alles friedlich und gewaltfrei verläuft.
Diese zündeten alle Bürger an und der Marsch auf die "Burg"
begann. Wir besprachen noch schnell, wie wir das in den Griff bekommen
sollten. Vom Sprecherrat wurden einige beauftragt voranzugehen um Blutvergießen
oder andere Exzesse zu verhindern.
Mein Auftrag war mit der Volkspolizei zu verhandeln, dass sie für
einen verkehrssicheren Ablauf sorgen sollte.
Der Marsch auf die Suhler „Burg“
Da ich noch spät abends, also vor der Veranstaltung in der Stadthalle,
im Fernsehen hörte, dass eine Kontaktaufnahme mit Berlin, entweder
per Telefon oder über das Fernsehen möglich sei, bot ich mich
an zu versuchen mit Berlin Kontakt aufzunehmen. Es erschien uns zunächst
nicht wichtig, dass alle zu gleicher Zeit da "oben" sein müssten.
Ich sprach mit einer Familie Teuerkauf sagte zu ihnen, sie sollten am
Fernseher zu Hause bleiben und ich würde von einer Telefonzelle aus
anrufen, wenn sie etwas Wichtiges hören sollten, oder es etwas mitzuteilen
gäbe. Nunmehr am Schluss des ganzen Zuges, mit meiner Frau und mit
der Kerze in der Hand, marschierten wir die ca. 1500m zur "Burg"
hoch. An der Ecke der Ilmenauer Straße war ein Telefonhäuschen,
welches zum Glück funktionierte. Die Familie Teuerkauf anrufend erfuhr
ich nichts wesentlich Neues.
Ich versuchte zum Tor vorzudringen um mit unserem Sprecherrat Kontakt
aufzunehmen. Da mich von den „Demos“ her alle kannten, ließ
man mich bereitwillig durch. Am Tor angekommen fand ich bereits Brigitta
Wurschi, Pfarrer Bernd Winkelmann, Superintendent Kretschmann und andere
FORUM-Mitglieder an diesem stehen. Die Menge brodelte. Randalierer versuchten
Unruhe zu stiften. Möglicherweise waren es Stasi-Leute oder IM`s.
Dann begann der Ruf: "Stasi raus", "Stasi in die Produktion",
"Wir sind das Volk", „Hängt sie auf“, usw.
Alles bekannten Slogans der Wende. Brigitta Wurschi versuchte die Stasioffiziere
die hinter dem Tor standen zu bewegen uns einzulassen. Keine Reaktion!
Die Situation wurde immer brenzliger. Die Menschenmenge drängte zum
Tor. Die Verhandlungen uns einzulassen dauerte bereits eine dreiviertel
Stunde. Schließlich wollte Brigitta Wurschi ein Megaphon von der
Stasi, um zu den Bürgern sprechen zu können, auch dies wurde
verwehrt, obwohl es in unmittelbarer Reichweite stand. Ich wollte daraufhin
gerade einen der Volkspolizisten bitten, die den ganzen Marsch begleitet
hatten, mir ein Megaphon zu besorgen, als man seitens der Stasioffiziere
einsah, dass es wohl nicht anders mehr gehen konnte und das Megaphon herausgaben.
Auch hier wollte man, dass ich zu den Bürgern spreche, sie beruhige
und ihnen sagen sollte, dass wir verhandeln, um in die "Burg"
hineinzukommen. Ebenso sprach dann Pfarrer Bernd Winkelmann und Superintendent
Kretschmann zu den immer mehr aufgebrachten Bürgern. Eineinhalb Stunden
brauchte es, um den Stasioffizieren abzuringen, dass 16 Bürger die
Stasiburg betreten durften. Unter den ersten waren meiner Erinnerung nach:
Brigitta Wurschi, Bernd Winkelmann, Superintendent Kretschmann, Lutz Stiehler,
Kristina und Harald Casper, René Hübner und mehrere mir nicht
mehr namentlich geläufige Mitstreiter. Brigitta Wurschi rief mir
noch schnell zu: „Herr Geißler, kommen sie mit.“ Worauf
ich den bei mir stehenden Ortwin Migge aufforderte auch mitzukommen.
Im Hof wurden wir genasführt. Immer wieder fragte uns Generalmajor
Lange, der oberste Leiter und Chef der Bezirksverwaltung, der sich in
der Zwischenzeit am Tor eingefunden hatte, was wir eigentlich sehen wollten,
wonach wir suchen, was wir vermuten und ähnliches.
Irreführung - genasführt werden - Ablenkungsmanöver
Hier muss ich wieder etwas einfügen, was zur Erläuterung für
Außenstehende notwendig ist. Um die "Burg" rankte sich
in der Bevölkerung eine Legende. Als der Neubau der Bezirksverwaltung
des MfS auf dem felsigen Grund des benannten Berges, über der Hofleite,
gebaut wurde, mussten Sprengarbeiten und Erdarbeiten in gewaltigem Umfang
getätigt werden. In Suhl glaubte jeder, und dies hängt wieder
mit einer gleich zu schildernden Legende der Nachkriegszeit zusammen,
die Stasi hätte Stollen in die Erde getrieben, um durch unterirdische
Ausgänge die "Burg" zu verlassen, oder auch um Menschen
in diesen unterirdischen Räumen zu foltern. Das Letztere lies sich
durch nichts, trotz Aufrufe des Bürgerkomitees und des Aktivs zur
Auflösung des MfS/AfNS, von betroffenen Bürgern beweisen.
Der "Krake Stasi" hatte es nicht notwendig, sich selbst
die Hände schmutzig zu machen.
Zurück zu den Stollen. Am Hang des Berges, also Richtung Rimbach,
befand sich die Waffenfabrik der Familie Krieghoff. In diesem Werk arbeiteten
in der Nazizeit Gefangene und Zwangsarbeiter. Sie schufteten bis zum Umfallen.
Um die Fabrik krisensicher zu machen, trieb man Stollen in den Berg für
den Fall einer Bombardierung und um die Produktion weiterlaufen zu lassen.
Nach dem Krieg haben die "Russen", wie es so schön hieß,
die Fabrik "geschleift", die Stollen zugesprengt. In der Zwischenzeit
wuchs eine Bewaldung am Hang, so dass kaum mehr etwas von den ehemaligen
Stollen zu sehen ist. Zumindest sind dies meine Kenntnisse dessen, was
ich als Koordinator auf der Burg von den Bürgerinnen und Bürgern
erfuhr und was wir durch eigene Feststellungen untersuchen und erkennen
konnten.
Legende vom „Berg“
Alle wollten an dem Abend des 4.Dezember nach unten in die Räumlichkeiten.
Auf dem Hof umherirrend versuchten wir, da uns seitens des GM Lange keine
Unterstützung angeboten wurde, in diese vermeintlichen Hohlräume
vorzudringen. Nachdem wir einige male an dem Haupttor des Neubaus vorbeigegangen
waren, schoss es mir irgendwie blitzartig durch den Kopf: Das Gehirn einer
Sache sitzt eigentlich immer oben! Also unter dem Dach. Dies sollte sich
viel später als richtig herausstellen, nämlich als wir feststellen
mussten, dass die Nachrichtenzentrale, die Brieföffnungsstelle, die
„Sparkasse“, die Hauptabteilung, die Spionageabwehr, genau
in den oberen Geschossen untergebracht waren. Wir waren in dem alten Teil
der ehemaligen Fliegerschule „untergetaucht“, und das war
ebenso gut.
Um einige Räume abzusichern und versiegeln zu lassen, holten in der
Zwischenzeit Kristina Casper, Gründungsmitglied des NEUEN FORUM und
Angelika Stolle, ebenfalls vom NEUEN FORUM, den Bezirksstaatsanwalt Schulze
aus dem Bett. Sie hatten den Auftrag ihn zu holen. Erst nach dem zweiten
Anlauf und inständiger Drohung betreffs der Verantwortlichkeit für
ihn, kam der Staatsanwalt auf die "Burg". Wir hatten indessen
einen Raum entdeckt, in dem alle Suhler personengebundenen Stasiunterlagen
säuberlich geordnet in Regalen gelagert waren. Das konnte die "Stasi"
besonders gut. Nach Auskunft des Archivars, Stasioffizier Georg Hoske,
waren in diesem Raum ca. 13 000 Unterlagen archiviert. Unter Beteiligung
des Bezirksstaatsanwaltes wurden Stichproben gemacht, um überhaupt
einmal zu sehen was eine solche Akte enthält und wie sie aussieht.
Nach Aussagen der "Stasi" sind in Suhl ca. 1000 Akten in den
letzten Wochen vor dem "Sturm" vernichtet worden. Inwieweit
dies stimmt ist nicht mehr nachvollziehbar.
Die vor dem Tor standen und nicht wussten, was in der "Burg"
vor sich geht, wurden immer unruhiger und ungeduldiger. Plötzlich
kommt jemand und sagte: "Die wollen das Tor einrammeln. Einer hat
mit einer Gaspatrone in die Menge geschossen". Auch hier forderte
man mich auf hinauszugehen um zu den Bürgern zu sprechen, was ich
dann auch tat. Bei dieser Gelegenheit, da ich im Gelände der „Stasi“
stand, stellte ich fest, dass eine bis an die Zähne bewaffnete Spezialtruppe
das Tor von innen stützte und abschirmte. Wie sich später herausstellte,
war es die Antiterrortruppe des MfS Suhl. Einige mir bekannte Gesichter
standen überhaupt hinter dem Zaun auf dem Stasigelände. Offensichtlich
wussten sie aus unseren Kreisen um die Vorhaben, zum anderen hatten sie
auch Dienst an diesem Abend.
Es war ca. 3.30 Uhr als wir das Gelände verließen. Es würde
zu weit führen, alle Begebenheiten dieser Nacht und des darauf folgenden
Tages zu schildern. Die aufregenden Szenen und Vorkommnisse häuften
sich und Details zu schildern würde zu weit führen. Hervorheben
muss ich, nachdem wir uns früh zur ersten Besprechung trafen, dass
plötzlich jemand kam und sagte: „Die Busfahrer von Suhl haben
mit ihren Fahrzeugen die ‚Burg’ systematisch abgeriegelt“.
Keiner konnte heraus oder hinein kommen. Eine mutige Tat.
Danke noch heute den Suhler Busfahrern.
Auswertung - neue Aufgaben und Nachrichten
Wir wollten an dem Vormittag, übernächtigt wie wir waren, eine
Auswertung vornehmen und die weitere Vorgehensweise beraten. Nach dieser
"Meldung" wurden Lutz Stiehler und ich beauftragt, zur "Burg"
zu fahren und zu erkunden, was eigentlich los sei. Dort angekommen, fanden
wir die Situation wie geschildert. Wir besprachen uns mit den uns am nächst
stehenden Fahrern und sind danach, auf einen anderen Hinweis hin, nach
Altendambach gefahren. In Altendambach, ein kleiner Nachbarort von Suhl,
sollte eine Bunker-Zentrale des SED-Chefs Albrecht, sowie der Stasi sein.
Zuvor wollten wir aber, entsprechend unseres Auftrages zur Bezirksbehörde
der Deutschen Volkspolizei. Diese sollte nach der "Erstürmung
der Burg" die Absperrung und die Sicherheit übernehmen. Wir
hatten und wollten sozusagen einen loyalen Sicherheitspakt mit der DVP
schließen. In der Bezirksverwaltung der BDVP (Bezirksbehörde
Deutsche Volkspolizei) angekommen - man hatte uns schon nachts nach der
Stasistürmung erwartet - wollten wir zu dem Diensthabenden. Später
erfuhren wir, dass der Leiter der BDVP Generalmajor Thieme geäußert
haben soll: "Wenn das NEUE FORUM hier auftaucht, ballere ich los".
Bei der BDVP angekommen ließ ich den operativen Diensthabenden kommen,
es war an diesem Tag Major Rust. Ich fragte ihn, ob er wüsste was
geschehen sei und ob er Maßnahmen getroffen hätte wie vereinbart.
Er verneinte und meinte, er wüsste nicht was am Abend vorher geschehen
sei. Darauf schilderte ich ihm die Situation und sagte zu ihm: „Wenn
sie nicht handeln, könnte ein Blutbad entstehen. Handeln sie sofort
und schirmen sie das Gelände ab.“
Was wir an diesem Tag noch nicht wussten: Die BDVP war eine Diensteinheit
der Stasi, mit der offiziellen Diensteinheitsnummer 11 90 00. Daraus kann
man nur folgern, dass uns Major Rust, der OD an diesem Morgen, belogen
hat. Es ist vollkommen unglaubhaft, dass er nicht gewusst haben will,
was am 4.Dezember auf der "Burg" geschehen war.
(Diensteinheit 11 = Bezirk Suhl, ab 90 00, ca. 50 verschiedene Diensteinheiten,
z.B. Bezirksverwaltungsorgane, Kreisdienststellen, Post, bis hin zu Ferienheimen
und anderen Objekten)
Lutz Stiehler und ich wollten noch unbedingt nach Altendambach, um möglicherweise
in den Bunker einzudringen. Wir wussten allerdings nicht was in der Zwischenzeit
auf der „Burg“ geschehen war und was da vor sich ging. In
Suhl hatte sich herum gesprochen, die Busfahrer halten die Stasizentrale
besetzt und die "Burg" sei für jedermann offen. Alles strömte
nunmehr unkontrolliert auf den Berg und begann einiges zu zerstören
in einem Umfang, der als unwesentlich bezeichnet werden muss. Durch den
Staatsanwalt hatten wir einiges versiegeln lassen, so dass diese Räumlichkeiten
nicht betreten werden konnten. Heute sage ich mir: vielleicht wäre
es besser gewesen, jedem, der es gewollt hätte, seine Akte in die
Hand zu drücken. Gut aber auch, dass es anders gekommen ist. Wer
weiß, wie wir uns heute gegenüberstünden und wie wir uns
begegnen würden.
Der Satz: "Keine Gewalt" ist und war auf alles und alle anwendbar.
Stasibunker in Altendambach
Mit Lutz Stiehler im Wald in Altendambach, gleich hinter der am Ortsausgang
liegenden Fabrik angekommen, stand ein hoher Zaun über den zu klettern
ich nicht mehr sportlich genug war. Lutz stieg hinüber. Ich sagte
ihm noch, er solle mir möglichst alles zurufen was er sieht oder
hört. Es herrschte eine Totenstille. Da ich Lutz Stiehler nicht mehr
sehen konnte, da er ca. 150m in den Wald lief und in eine Wegkrümmung,
ich aber hörte, wie er sich an etwas zu schaffen machte, rief ich:
"Was ist los?" Er rief zurück: "Hier ist so etwas
wie eine Garage oder ein Schuppen, ich komme aber nicht hinein".
Er kam zurück. Unverrichteter Dinge zogen wir ab, nicht wissend,
dass er gegenüber dem Eingang eines Führungsbunkers der SED-Bezirksleitung
und der NVA gestanden hat. Übrigens ein wohl getarnter Eingang, wovon
ich mich später selber überzeugen konnte. In diesem hätten
wir bestimmt wichtige Dokumente gefunden. Als ich später zu einer
Inspektion aller um Suhl herum liegenden Bunkeranlagen unterwegs war,
in Begleitung von NVA-Offizier Major Thieme, war natürlich alles
ausgeräumt, übergeben, oder vernichtet worden. Zeitgründe,
Unwissenheit über vorhandene Unterlagen, Unkenntnis und vieles mehr,
sind Gründe gewesen, dass wir das gesamte System nicht systematisch
auseinander nehmen konnten. Die Zeit der Erkenntnisse über bestimmte
Vorgänge und das Abrechnen mit den Verbrechen wird kommen. Vergessen
und Verdrängen der jüngsten Vergangenheit ist im Moment leider
das oberste Gebot der Ostdeutschen, allerdings auch der Westbürger.
Eine klare, unvoreingenommene und aufzuarbeitende Historie wird dann nur
noch wenige Überlebende erreichen.
Entwicklung der Bürgerbewegung
Zurück zur weiteren Entwicklung der Bürgerbewegung.
Nachdem wir das Bürgerkomitee gebildet hatten und uns mit der Stasiauflösung
befassten, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm, mussten wir das NEUE FORUM
politisch festigen und einigen. Dazu gehörte viel persönlicher
Einsatz, es brachte aber auch sehr viel Verwirrung und unklare Meinungsbildungen
mit sich.
Die Arbeitsgruppen arbeiteten weiter und brachten inhaltliche Dinge zustande,
die insofern von Bedeutung sind, als sie Grundlagen bildeten für
eine Demokratisierung der abgewirtschafteten und ausgelaugten DDR. Zwischen
dem "Dienst" auf der Burg - ich war täglich von früh
7.00 Uhr bis abends 19.00 Uhr auf der "Burg" - manchmal wurde
ich auch nachts geholt, wenn irgendwer Angst bekam oder andere Vorkommnisse
eintraten, befasste ich mich mit dem Aufbau des Bürgerkomitees und
der Vernetzung des NEUEN FORUM.
Nachts wachte Rene Hübner vom Bürgerkomitee über die „Burg“
mit vielen Suhler Bürgern, welche die "Burg" rund um die
Uhr, ständig umringend bewachten.
Hier muss ein Dankeschön an die Hunderte von Helfern gesagt werden,
die das Bürgerkomitee und das NEUE FORUM zu dieser Zeit unterstützten.
Von Weihnachten bis Silvester 1989 waren Tage, für die ich mich persönlich
verantwortlich fühlte und mich vollständig auf der Burg aufhielt.
Während der Feiertage wollte keiner persönlich zur Sicherung
der „Burg“ etwas beitragen, oder anwesend sein. Feiertage
sind sozusagen für alle "heilige Ruhetage". Ich war wütend,
so dass ich einmal zornig zu allen sagte: "Ihr seid mir prächtige
Revolutionäre. Ihr macht eine Revolution mit eingeplanten Feiertagen!"
Runder Tisch der Stadt Suhl
Dann begann die Zeit der Runden Tische. Brigitta Wurschi und Erich Hein
waren für den Bezirkstag zuständig. Harald Casper, Gründungsmitglied
des NEUEN FORUM Suhl und ich, für die Stadt. Der OB Kunze war am
30. November 1989 zurückgetreten, nicht aber der Stadtrat.
Dies war besonders hinderlich, da quasi zwei Gremien nebeneinander das
„Sagen“ hatten. Alte SED-Kader und die eingefleischten Blockflöten
der Stadt Suhl, wollten die Macht nicht aus den Händen geben. Übergangs-OB
Hausdörfer übernahm kommissarisch die Geschäfte, bis dann
Herr Kober als OB eingesetzt wurde. Er musste später wegen Stasiverstrickung
und IM-Tätigkeit sein Amt aufgeben.
Der Runde Tisch, gleich ob im Bezirk oder in der Stadt, wäre eine
große Chance gewesen, eine neue Demokratie aufzubauen. Dies ist
uns, dem NEUEN FORUM und den Bürgerbewegungen, nicht gelungen. Ich
musste viel lernen im Bezug auf demokratische Spielregeln. Nicht weil
ich mich dagegen gesperrt hätte, oder sie nicht kannte - für
mich ist kommunales Zusammenleben, Zusammenleben überhaupt, eine
viel einfachere Sache als für viele andere Menschen - nein, es kamen
nunmehr die, die ganz genau wussten wie Demokratie funktioniert. Solche
die glaubten durch Verfahrensweisen und ausgesuchte Regeln alles zu blockieren.
Diese Leute haben ganz einfach in ihrer Dummheit und mit ihrer Arroganz
Zerwürfnisse hervorgerufen und den Bürgerbewegungen schlechthin,
sowie dem Demokratieaufbau insgesamt, geschadet.
Betriebe kamen zu uns, speziell zu mir und wollten, dass wir ihnen helfen.
Gesetzesunkenntnis, Rechtsunsicherheit, Mutlosigkeit, aber auch ein Nachhängen
am Untergegangenen war die Folge der gesellschaftlichen- und wirtschaftlichen
Wende. Misstrauen entstand, wer könnte wohl IM in meiner Umgebung
sein. Dazu kamen unbotmäßige Forderungen, die Gier nach dem
begehrten Westgeld und, und, und,...
Alles dies ließ unsere soziale Gesellschaft immer mehr zerfallen.
Begünstigt natürlich durch den Hass, der entstanden war zwischen
denen, die entmachtet worden sind und denen, die nach wie vor versuchten,
in Positionen einzudringen, um neue Macht zu gewinnen.
Diese Vorgänge wären wert, sie extra zu beschreiben und zu analysieren.
Hierzu zählen u.a.
- Modrows Treuhand.
- Das unfähigste Regierungstrio der deutschen Geschichte:
De` Maiziere, Diestel und Krause.
- Der Einigungsvertrag!
Nach eingehendem Studium des Vertrages
stellte ich fest, dass z.B.
meine Berufsgruppe „Komponist“ vollkommen
fehlt, u. a. Schwachstellen!)
- Kanzler Kohls in Dresden ausgerufenen „... blühende
Landschaften“
- Westkonkurrenz, die ostdeutsche, gut laufende Unternehmen platt machten
- Banken, die mit hohen Kreditzinsen (8 – 20 %)
private Initiativen in den Ruin trieben.
- "Joint Venture"-Unternehmen, die eher ausbeuterische, denn
gewinnbringende
Partnerschaften hervorbrachten
- Keine Vermögensbildende Maßnahmen für die ostdeutschen
Bürger.
Erste frei gewählte Volkskammer und "Gauckausschuss"
In all diese Vorgänge und in dieses Gedankengut hinein wurde ich
aufgefordert, in dem Volkskammerausschuss für die Auflösung
des MfS/AfNS, dem sog. Gauckausschuss, als berufener Bürger mitzuarbeiten.
Was wir im Januar 1990 nicht wussten: In der Normannenstraße in
Berlin, also in "Mielkes Imperium", arbeitete die Stasi weiter
wie in alten Zeiten, trotz der Erstürmungen der meisten Bezirksstasizentralen
der DDR am 4. Dezember 1989.
Wir wussten in Suhl nicht, dass die Berliner alles verschlafen und erst
am 15. Januar 1990 in der Normannenstraße Mielkes Imperium gestürmt
hatten.
Von Martin Montag, dem katholischen Pfarrer von Zella-Mehlis, kam ein
Hilferuf aus Berlin an das Suhler Bürgerkomitee – er hatte
die Besetzung am 15. Januar in Berlin in der Normannenstraße miterlebt
– einige Bürger nach Berlin zu schicken, um die Berliner zu
unterstützen.
Mielkes Imperium in der Normannenstraße in Berlin
Wir fuhren am 16. Januar 1990 früh um 3 Uhr als Bürgerkomitee
in die Normannenstraße nach Berlin. Es waren dies: Dieter Möller,
Renè Hübner, alles Mitglieder des Bürgerkomitees und
des NEUEN FORUM und ich. Wir blieben bis zum 19. Januar in Berlin, mussten
dann aber wieder nach Suhl, denn da brannte der Ofen ebenso lichterloh
wie in Mielkes Imperium.
Um all dies präzis zu schildern, bedarf es eines besonderen Kapitels,
denn was sich in dieser kurzen Zeit da abspielte, war derartig abstrus,
monströs und pervers, dass es sich kaum noch beschreiben lässt.
Als Stichworte kann ich nur zitieren: das Versagen der Militärstaatsanwälte
in Berlin. Die ausländischen Botschafter, vor allem der Alliierten,
die Morgenluft witterten was die Stasi-Akten betraf. Für diese Leute
gezielt die Hauptabteilung II des Markus Wolf und in diesem Zusammenhang
genannt die „Rosenholz-Akten". Die Kaderschmiede des MfS in
Gosen bei Berlin, die wir eigentlich noch aufsuchen wollten. Aus Zeitgründen,
aber auch wegen der Übermüdung von uns, und möglichst schnell
wieder nach Suhl zu kommen, schafften wir das nicht mehr. Allein an dem
Zitierten kann man ermessen, was jeder auf sich nehmen musste und das
alles einer genaueren Analyse und Untersuchung der Vorgänge bedarf.
Öffnung des Cottbusser Stasiarchivs in einem alten Fliegerhangar
Im Mai 1990 (?) rief uns Jürgen Haschke, der für Thüringen
zuständige Volkskammerabgeordnete des Gauckausschusses an: Wir hätten
doch Erfahrung mit der Stasiauflösung und möchten mit nach Cottbus
kommen. In Cottbus hatten die Bürger, nach der Erstürmung der
Stasizentrale alle Unterlagen in einen Hangar untergebracht und zugemauert.
Diesen in unserem Beisein zu öffnen war das Anliegen. Wir fuhren
also zu dritt – Hübner, Möller und ich als eingespieltes
Team - nach Cottbus, um mit dem dortigen Bürgerkomitee den Bunker
zu öffnen. Dazu wurde schweres Arbeitsgerät benötigt, welches
von den Cottbussern beschafft wurde. In das Mauerwerk war das Datum des
Verschließens eingeritzt, ich kann mich aber nicht mehr an dasselbe
erinnern. Es muss Februar 1990 gewesen sein.
Was uns entgegenstarrte war eine unübersichtliche Menge von Akten,
Säcken mit hunderten von Papierschnitzeln, Mobiliar und vieles andere.
In diesem Wirrwarr etwas zu finden oder interessantes zu entdecken war
unmöglich. Nach getaner Arbeit fuhren wir, etwas enttäuscht
ob des Aufwandes und des Misserfolges, wieder nach Thüringen zurück
und widmeten uns der Aufgabe der Auflösung des MfS/AfNS in unserer
Bezirksverwaltung.
Vernetzung NEUES FORUM Bezirk Suhl
Ab des 15. Februar 1990 hatte ich vom NEUEN FORUM als einer derjenigen
im
Bezirksprecherrat der nunmehr verantwortlich war, den Auftrag das NEUE
FORUM- Büro in der Theodor-Neubauer-Straße 9 in Suhl zu eröffnen,
um die politische Arbeit aufzunehmen.
Es wurde notwendig, im ehemaligen Bezirk Suhl, das NEUE FORUM zu vernetzen.
Adresslisten aufzubauen. Kontakte herzustellen. In unserem Bezirk hatten
sich in Schleusingen (starke Gruppe), Neuhaus (starke Gruppe), Steinheid,
Sonneberg, Hildburghausen, Römhild, Schmalkalden (starke Gruppe),
Steinbach-Hallenberg, Bad Salzungen (starke Gruppe), Bad Liebenstein,
Vacha, Empfertshausen (Einzelkämpfer), Geisa, Ilmenau (starke Gruppe),
FORUM-Gruppen gebildet, die vernetzt werden mussten. Außerdem bestand
seit dem 4. Dezember 1989 Kontakt zum NEUEN FORUM Erfurt und dem Erfurter
Bürgerkomitee. Zusätzlich mussten die letzten Volkskammerwahlen,
18. März 1990, die erstmals auch frei und geheim durchgeführt
wurden, vorbereitet werden.
All dies unbekannte und ungelernte Tätigkeiten.
Im Gauckausschuss wurde ich als freier Bürger Sonderbeauftragter
des Bezirkes Suhl für die Enttarnung der OiBE (Offiziere im besonderen
Einsatz), der HIM und der UM (Hauptamtliche inoffizielle Mitarbeiter,
unbekannte Mitarbeiter) was mir nur teilweise gelang. Mit dem 3.Oktober
1990, dem Tag der deutschen Einheit, endet leider die Ausschussarbeit.
Die betroffenen Leute sind bekannt. Die Listen existieren in der Gauckbehörde.
Gearbeitet wird mehr oder weniger an einer Enttarnung und an einer konsequenten
Aufklärung. Zum Schutz der Behörde muss ich allerdings sagen,
dass es einer hoch komplizierten, verantwortungsvollen und einfühlsamen
Arbeit bedarf, um dies Unterlagen die Personengebunden sind, zu analysieren
und aufzuarbeiten nicht unterschätzt werden darf.
Schließlich fanden mit der Gründung der neuen Bundesländer,
die ersten freien und geheimen Wahlen nach der Wiedervereinigung 1990
in Deutschland statt. Wir hatten als NEUES FORUM einen politisch fundamentalen
Fehler begangen, nämlich uns in der Zwischenzeit mit Leuten aller
Couleur einzulassen, von denen wir annahmen sie seien unsere politischen
Freunde und Mitstreiter. Nicht zuletzt hatte hierzu die Berliner Gruppe,
voran Reinhard Schult, Ingrid Köppe, Bärbel Bohley und andere,
die von sich aus behaupteten, sie wären die alleinigen Gründer
des NEUEN FORUM, einen großen und gewichtigen Anteil. Sie erkannten
nicht, dass eine Bürgerrechtsbewegung die nicht Partei werden will,
keine Parteistrukturen wollte, kaputt gespielt wird, vor allem von denjenigen
die zunächst „Hosianna“ schrieen und dann „Kreuzigt
sie“ riefen.
Also mussten wir die bittere Erkenntnis hinnehmen, dass wir einem politisch
hinterlistigen „Gaul“ aufgesessen sind.
Erste freie und geheime Wahlen in Thüringen 1990
Nichtsdestoweniger hatte man mich in Thüringen zum Spitzenkandidaten
auf der Liste: NEUES FORUM /Grüne /Demokratie Jetzt/ gewählt.
Wir hofften mit und durch den Wahlkampf den neuen Ministerpräsidenten
von Thüringen zu stellen. Alles kam, wie wir heute wissen, anders.
Das NEUE FORUM beging mit der Listenverbindung eine Mesalliance ein. Sie
erbrachte politisch keinen Sinn, wurde nicht ernst und vertrauenswürdig
genommen, vor allem weil sie sich politisch unreif darbot und zu Bruch
ging.
Eines bleibt für mich persönlich:
Als ältester Abgeordneter war ich der 1. Alterspräsident im
ersten Thüringer Landtag. Darauf bin ich stolz und es blieb mir vergönnt
und vorbehalten, als Mitglied des NEUEN FORUM, der wichtigsten Bürgerrechtsbewegung
in der DDR, die konstituierende Sitzung am 25. Oktober 1990 im Deutschen
Nationaltheater in Weimar durchzuführen.
Mit der Eröffnungsrede konnte ich aus der Sicht der Bürgerbewegung
für eine neue, demokratische Zeit werben und sie in groben Umrissen
andeuten.
Mein Demokratieverständnis steht dafür – und daran halte
ich fest: Für mich müsste eine frei gewählte Bürgerdemokratie,
oder Basisdemokratie entstehen, die frei ist von Fraktionszwang, von Parteigehorsam,
die ein Koalieren von Parteien untereinander nicht notwendig hat und die
tatsächlich das ist, was unser Leitspruch hergibt: Bürger für
Bürger!
Diese andere, neue, oder eigentlich direkte Demokratie, wurde von mir
in gesonderten Schriften festgehalten und erarbeitet.
In der Politik muss man lernen Geduld zu haben und sich darin zu üben.
Dies lernte ich in den vier Jahren meiner Abgeordnetentätigkeit im
Landtag kennen, und - man muss politische Mehrheiten hinter sich bringen
um pragmatische Politik, aber auch um Visionen durchzusetzen. Die Zeit
wird kommen und reifen in welcher die Bürgerbewegung des Herbstes
89 mit ihrem Gedankengut und ihrem Demokratieverständnis eine politisch
übergreifende Größe darstellen wird. Dann sind realistische
und wahrhaftige Veränderungen möglich. Nur dann können
gesellschaftliche Erneuerungen stattfinden und herbeigeführt werden.
Eines sei hinzugefügt: In meiner Eröffnungsrede zitierte ich
Thomas Mann, nachdem er 1951 das erste Mal wieder Deutschland besuchte
und in der Paulskirche in Frankfurt/Main, im Deutschen Nationaltheater
Weimar den Deutschen zurief: „Wir brauchen kein Deutsches Europa,
wir brauchen ein Europäisches Deutschland.“
Dieser Satz ist heute gültiger denn je zuvor, leider auch unbeachteter!
Mein Schlusssatz der Rede lautete: „Demokratie leben heißt:
Demokratie vorleben!“
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